30.03.2020
Die vertragliche Nichterfüllung durch Werksschließung in Zeiten der Coronavirus-Epidemie in Italien

Durch die Coronavirus-Epidemie in Italien wurde die nationale Wirtschaft stark getroffen. Viele Betriebe können ihre geschuldeten Leistungen nicht mehr erfüllen, da es zu Lieferengpässen, fehlendem Personal und Verlusten kommt. Zudem wurde mit dem Dekret des Präsidenten des Ministerrates vom 22. März 2020 die Einstellung aller Produktionsaktivitäten angeordnet, die nicht essentiell sind. Es muss somit überprüft werden, ob eine Nichterfüllung aufgrund des angeordneten vorübergehenden Produktionsstopps eine vertragliche Haftung mit sich bringt oder sich das betroffene Unternehmen auf das Prinzip der „höheren Gewalt“ berufen kann.

Die höhere Gewalt als grundlegendes Rechtsprinzip in der vertraglichen Haftung

Das italienische Rechtssystem sieht im Zivilgesetzbuch (ZGB) keine Definition der höheren Gewalt vor. Grundsätzlich gilt, dass der Schuldner, der die geschuldete Leistung nicht gehörig erbringt, zum Schadenersatz verpflichtet ist. Gemäß Art. 1218 ZGB ist der Schuldner jedoch nur dann zum Schadenersatz verpflichtet, wenn er nicht beweist, dass die Nichterfüllung oder die Verspätung durch Unmöglichkeit der Leistung verursacht worden ist, die auf einen von ihm nicht zu vertretenden Grund zurückgeht.

Der Schuldner kann also die negativen Folgen der vertraglichen Verantwortung vermeiden, wenn er beweist, dass die Nichterfüllung oder Verspätung in der Erbringung der geschuldeten Leistung von einer Ursache abhängen, die nicht dem Schuldner zugerechnet werden kann. Die Ursache gilt als unverschuldet, wenn diese nicht auf eine mangelnde Sorgfalt des Schuldners zurückgeführt werden kann und die Ursache und deren Folgen nicht mit jener Sorgfalt beseitigt werden können, die sich der Gläubiger erwarten kann (Kassationsgerichtshof, 2. Sektion, Urteil vom 8. November 2002, Nr. 15712).

Die Leistung ist allerdings nicht unmöglich nur weil sie schwierig ist: Die Unmöglichkeit besteht nämlich in einem auf den Vertrag bezogenen objektiven und absoluten Hindernis, das nicht mit der gewöhnlichen Sorgfalt beseitigt werden kann (Kassationsgerichtshof, 3. Sektion, Urteil vom 10. Juni 2016, Nr. 11914).

Die unverschuldete Ursache, die die Nichterfüllung oder Verspätung der geschuldeten Leistung mit sich bringt, kann bei der Ausführung der Leistung nach Vertragsabschluss eintreten und dabei die Schuld tilgen, und zwar auf zweierlei Art und Weise.

Die nachträgliche Unmöglichkeit der Leistung

Gemäß Art. 1256, Abs. 1 ZGB erlischt die Verpflichtung, wenn die Leistung aufgrund einer dem Schuldner nicht zurechenbaren Ursache unmöglich erbracht werden kann. Dabei muss die nachträgliche Unmöglichkeit objektiv, absolut und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht vorhersehbar sein (Kassationsgerichtshof, 2. Sektion, Urteil vom 27. Februar 2004, Nr. 4016).

Die unverschuldete Ursache kann allerdings auch eine nur teilweise (Art. 1258 ZGB) oder vorübergehende (Art. 1256, Abs. 2 ZGB) Unmöglichkeit der Leistung mit sich bringen. Im ersten Fall erlischt die Schuld, wenn der Schuldner den noch möglichen Teil der geschuldeten Leistung erbringt. Im zweiten Fall ist der Schuldner – für die gesamte Dauer der Unmöglichkeit – nicht für die Verspätung in der Erbringung der Leistung verantwortlich. Die Schuld erlischt aber, wenn aufgrund der Vertragsart oder der Sache der Schuldner nicht mehr für die Leistung verpflichtet betrachtet werden kann oder der Gläubiger kein Interesse mehr an der Leistung hat.

In Verträgen mit wechselseitigen Leistungen ist die (gesamte) nachträgliche Unmöglichkeit der Leistung auch ein Grund für die Aufhebung des Vertrags (Art. 1463 ZGB). Allerdings muss in diesem Fall beachtet werden, dass die Gegenleistung nicht mehr verlangt werden darf und die bereits erhaltenen Leistungen dem Erbringer rückerstattet werden müssen. Ist die Unmöglichkeit hingegen eine teilweise oder eine vorübergehende, gibt es keine Aufhebung des Vertrages. Bei teilweiser Unmöglichkeit hat die Gegenpartei Recht auf eine Reduzierung der geschuldeten Gegenleistung und kann auch den Vertrag kündigen, wenn sie kein relevantes Interesse an der teilweisen Vertragserfüllung hat. Ist die Unmöglichkeit hingegen nur vorübergehend, kann die geschuldete Leistung für die Dauer der Unmöglichkeit rechtmäßig ausgesetzt werden (Kassationsgerichtshof, 2. Sektion, Urteil vom 24. April 2009, Nr. 9816).

Die Unmöglichkeit der Leistung besteht zudem, wenn der Gläubiger die Leistung unverschuldeterweise nicht mehr nutzen kann oder er kein Interesse mehr an dieser hat (Kassationsgerichtshof, 3. Sektion, Urteil vom 29. März 2019, Nr. 8766).

Die nachträgliche übermäßige Belastung

Der Vertrag kann außerdem aufgehoben werden, wenn die geschuldete Leistung aufgrund außerordentlicher und unvorhersehbarer Umstände, die nicht Teil des ordentlichen Geschäftsrisikos sind, übermäßig belastend für eine Vertragspartei wird (Art. 1467 ZGB). Dies gilt allerdings nur für Verträge mit wechselseitigen Leistungen, deren Ausführung kontinuierlich (eine Leistung, deren Wirkung für eine gewisse Zeit fortdauert, z.B. ein Mietvertrag), periodisch (mehrere geschuldeten Leistungen zu verschiedenen Zeitpunkten, z.B. ein Liefervertrag) oder aufgeschoben ist.

Das Erlöschen der Schuld ist, anders als bei der nachträglichen Unmöglichkeit der Leistung, nicht automatisch, sondern muss vom Gericht festgestellt und verkündet werden. Das Ausmaß der Belastung wird dabei anhand des Missverhältnisses zwischen den jeweils geschuldeten Leistungen bestimmt und muss somit wesentlich sein (Kassationsgerichtshof, 3. Sektion, Urteil vom 25. Mai 2007, Nr. 12235, und Urteil vom 19. Oktober 2006, Nr. 22396).

In Verträgen mit wechselseitigen Leistungen kann die Gegenpartei die Aufhebung des Vertrags verhindern, indem sie anbietet, die Vertragsbedingungen so zu ändern, dass sich das Geschäftsverhältnis wieder im Gleichgewicht befindet.

Handelt es sich hingegen um einen Vertrag mit einseitiger Leistung, kann die betroffene Vertragspartei um eine Reduzierung der geschuldeten Leistung oder um eine Vertragsänderung anfragen.

Gesetzliche Maßnahmen als unverschuldeter Grund der Nichterfüllung

Die epidemiologische Notsituation durch das Coronavirus hat zu einer Vielzahl von gesetzlichen Maßnahmen geführt, die die weitere Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Drei Maßnahmen sind dabei im Falle einer vertraglichen Nichterfüllung von Bedeutung:

  1. Art. 10, Abs. 4, Gesetzesdekret Nr. 9 vom 2. März 2020 sieht vor, dass für die Personen, die in einer vom Dekret des Präsidenten des Ministerrats vom 1. März 2020 bestimmten Gemeinde (Bertonico, Casalpusterlengo, Castelgerundo, Castiglione D‘Adda, Codogno, Fombio, Maleo, San Fiorano, Somaglia, Terranova dei Passerini, Vo’) wohnen, ihren Betriebssitz haben oder ihre Arbeitstätigkeit ausführen, die Fristen in Bezug auf Verwirkung oder Verjährung von Rechten im Zeitraum vom 22. Februar 2020 bis zum 31. März 2020 ausgesetzt sind.
  2.  Das Dekret des Präsidenten des Ministerrats vom 22. März 2020, abgeändert mit Dekret des Ministers für Wirtschaftsentwicklung vom 25. März 2020, hat die Einstellung der Produktions- und Handelstätigkeit, mit Ausnahme der im Anhang angeführten Tätigkeiten, mit Wirkung vom 23. März 2020 bis zum 3. April 2020 angeordnet, wobei die für die Einstellung notwendigen Tätigkeiten bis zum 28. März abgeschlossen werden müssen. Die von der Einstellung ausgenommenen Tätigkeiten sind anhand des ATECO-Codes bestimmt.
  3.  Art. 91, Abs. 1, Gesetzesdekret Nr. 18 vom 17. März 2020 verfügt, dass die Einhaltung der Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus laut Gesetzesdekret Nr. 6 vom 23. Februar 2020 berücksichtigt werden muss, um eine Haftung  des Schuldners nach Art. 1218 und 1223 ZGB auszuschließen, dies auch in Bezug auf die Anwendung von Verwirkungen oder Vertragsstrafen im Falle von verspäteten oder fehlenden Leistungen.

Laut geltender Rechtsprechung kann die unverschuldete Unmöglichkeit der Leistung auch durch eine gesetzliche oder verwaltungsrechtliche Maßnahme, die dem Interesse der Allgemeinheit entspricht (Kassationsgerichtshof, 2. Sektion, Urteil vom 11. Januar 1982, Nr. 119) verursacht werden, insofern diese bei Vertragsabschluss nicht vorhersehbar war und alle Möglichkeiten erschöpft wurden, die Unmöglichkeit zu verhindern (Kassationsgerichtshof, 3. Sektion, Urteil vom 8. Juni 2018, Nr. 14915, und Kassationsgerichtshof, 1. Sektion, Urteil vom 28. November 1998, Nr. 12093). Das DPM vom 22. März 2020 wurde zweifelsohne im Interesse der Allgemeinheit verabschiedet, um das Recht auf Gesundheit aller Bürger laut Art. 32 der italienischen Verfassung zu schützen.

Auch die Bestimmung von Art. 91, Abs. 1, Gesetzesdekret Nr. 18 vom 17. März 2020 führt keine automatische oder vermutete Befreiung des Schuldners von der vertraglichen Haftung ein. Die Einhaltung der Eindämmungsmaßnahmen ist nämlich nicht ausreichend, um sich der Verantwortung zu entziehen. Es muss somit bewertet werden, ob die Einhaltung der Maßnahmen wirklich zur Nichterfüllung der Leistung geführt hat und ob dies vom Schuldner mit der gewöhnlichen Sorgfalt vermieden hätte werden können. Zudem muss die Nichterfüllung von spezifischen gesetzlichen Maßnahmen verursacht werden, nämlich Eindämmungsmaßnahmen, die:

a)     auf dem Gesetzesdekret Nr. 6 vom 23. Februar 2020, ersetzt durch das Gesetzesdekret vom Nr. 19 vom 25. März 2020, basieren;
b)    das Ziel haben, die Ausbreitung der Epidemie zu verhindern;
c)     von den zuständigen Behörden erlassen wurden.

Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Epidemie dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienen. Es handelt sich somit um sogenannte „Eingriffsnormen“, das heißt Bestimmungen, die Vorrang gegenüber den vertraglichen Bestimmungen und gegenüber dem auf den Vertrag anwendbaren Recht einnehmen und jegliche gegenteilige vertragliche Vereinbarungen außer Kraft setzen (Art. 17 des Gesetzes vom 31. Mai 1995, Nr. 218 und Art. 9 EU-Verordnung Nr. 593/2008).

RA Esther Pomella
Dott. Mag. Andreas Schmiedhofer